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Einleitung zu Ausgabe 6

Versuchung der Lyrik,
oder: Fünf Versuche, die Antwort auf eine ­einfache Frage möglichst schwer zu machen
Jost Eickmeyer

An den Anfang sei eine Strophe gesetzt, ein Gebinde aus Versen :

Ich möchte mit dir in einer Dichtersprache sprechen,
ohne die Stille zu durchbrechen.

Es ist nicht so schwierig, wie es klingen mag :

Es ist nur so,
als zöge man ein Kristallglas
an einem Wollfaden
über
einen steinübersäten Strand.

Eine freundliche, ja sanfte Einladung zum Gespräch wird hier vorgebracht. Es scheint, als streckte das Gedicht selbst seine Hand aus, um mit der Leserin auf Augenhöhe zu kommunizieren. Der Kontrast zwischen seinem ›Sprechen‹ und der unverbrüchlichen Stille erscheint sogleich aufhebbar: Spricht Dichtung doch seit Erfindung der Schrift in aller Stille zur Leserin, mag diese selbst nun laut, halblaut oder leise lesen. Und doch meint dieses Gedicht, beteuern zu müssen, dass sein Vorsatz leichter ins Werk zu setzen sei, als »es klingen mag«. Just in diesem ›Klingen‹ — »að hljóma« — wird der vermeintliche Pakt zwischen stummer Schrift und Leserin unterlaufen. (Nur die deutsche Übersetzung hat dieses Klingen bereits vorbereitet im Reim »sprechen — brechen«, den es im Original nicht gibt. Hier kommt es, obendrein am Ende des Verses, überraschender.)
Ein Klang soll also die Dichtersprache transportieren, und zwar mit einer Leichtigkeit, von der die Leserin überrascht sein sollte. Dieser Klang ergibt sich in den letzten fünf, kurzgetrimmten, Versen aus dem Zusammenspiel von Kristallglas, Wolle und Stein, aus dem kunstvoll Ziselierten, dem grob Gesponnenen und dem Rauen, Naturbelassenen. Suggeriert diese Trias auf den ersten Blick materialiter eine Abwärtsbewegung von der Kunst über das Handwerk zur Natur, so hört man mit leicht geneigtem Kopf noch eine andere Kombination heraus: Zwei Mineralien-Mischungen schließen etwas ein, das aus Tierhaar gefertigt wurde; Hartes umgibt Flexibles; am Glas kann man sich schneiden wie an der Kante des Steines, der Faden dagegen wurde zugeschnitten.
Diese ›Schichtung‹ der Materialien ergibt sich allerdings nur aus ihrer jeweiligen Position in der Versfolge. Folgt die Leserin der Evokation der Verse, dann sind die Rollen anders verteilt: Steine drohen das Glas zu zerbrechen, der Faden — per se passiv — übt eine ziehende Gewalt aus. Der Klang, den die Leserin mittels dieser Evokation hören und der die Dichtersprache transportieren soll, dürfte ein leises, unregelmäßiges, stets vom Zerspringen bedrohtes Klingen des Kristalls sein, je nach dem, wo die Natur des Strandes ihm Steine in den Weg gelegt hat.
(… Sehen wir — die Leserin und ich — davon ab, dass der Klang der Originalsprache, in den Ragnar Helgi Ólafsson dieses Klingen gefasst hat, im Deutschen notwendigerweise verloren gehen muss; erkennen wir an, dass die Übersetzer aus Alliterationen, Assonanzen von Umlauten und Konsonantenkombinationen etwas geschaffen haben, das die Dichtersprache, wenn auch anders, erklingen lässt …)
Das Gedicht spricht, die Leserin hört seine Sprache, eingekleidet in eine Metaphorik, die ohne Weiteres zu bestimmten Annahmen über Lyrik, über ihre Zartheit, ihre Bedrohung durch all die ›Härten‹ um sie herum (Romane, Film, Fernsehen, ›neue‹ Medien) und ihren ›leisen Ton‹ auf dem Literaturmarkt passt. Die Leserin antwortet auf die Ansprache des Gedichts, womöglich mit Zuneigung. Sie greift zum Schreibzeug, will ihre Kritik beginnen…
Doch halt! In diesem Moment zieht das Gedicht die ausgestreckte Hand zurück. Die Beinahe-Kritikerin glaubt, ein kristallklares Gelächter zu hören. An ihrer Schreibhand entdeckt sie die Schlinge eines Wollfadens, an dem das Gedicht sie, ohne dass sie es bemerkt hätte, herumgeführt hat. Dieser Wollfaden ist das ›als ob‹: »eins og«, im Deutschen korrekt durch ›als‹ und den Konjunktiv wiedergegeben. ›Als ob‹ versetzt die, ach so stimmige, Evokation der zerbrechlich-kristallinen Dichtersprache in den Irrealis, rückt sie aus der Realität des Gedichtes heraus. Indem die Leserin diesen Klang als solchen, als realen imaginiert hat, ist sie der Versuchung des Gedichts erlegen, die hinter den ersten, den vertraulich vorgebrachten Versen lauerte. Versuchung muss nicht Lüge bedeuten. Im Gegenteil: In den fünf Versen des Irrealis zeigt das Poem seine Dichtersprache ganz offen, sie besteht nur nicht im Klingen des Kristalls, sondern eben darin, die Leserin die ›Harmonie‹ von Glas, Wolle und Stein imaginieren zu lassen. Auf der realen Ebene bleibt es vorläufig am Beginn stehen: bei dem Wunsch nach Kommunikation, nach einer Leserin/Kritikerin, die für »skáldamál« ansprechbar ist; womöglich nach einer, die nicht bequem am »als ob« entlang-liest, es über-liest (»über«, »eftir« ragt doch als einsames Signal im vorletzten Vers auf!), nur um sich dann, gebunden, am steinigen Strand wiederzufinden.
Verallgemeinert man diese wenigen Beobachtungen über das Exempel hinaus, so ergibt sich: Die Ansprache durch ein Gedicht könnte beliebig viele verschiedene Antworten hervorrufen. Welche wäre die ›richtige‹ in dem Sinne, dass sie dem lyrischen Text, seinem Gehalt und Sinn nach, seiner spezifischen Kombination jener längst nicht mehr scharf voneinander zu trennenden Symbionten Form und Inhalt gerecht würde? — dass sie das Prädikat »Kritik« insofern verdiente, als sie zur »Allegorie zum Gelesenen« würde, einen lyrischen Text unter ein Brennglas rückte — und dabei womöglich, ein unverhoffter Nebeneffekt, ihre Leser entflammte?
Mit leicht gedrosseltem Register kann die Frage so formuliert werden : Wie lässt sich angemessen über Lyrik schreiben? So ›angemessen‹, dass das Schreiben nicht eben lyrisch wird (sonst wäre Lyrik die einzig echte Form von Lyrikkritik), aber doch sich seinem Gegenstand passgenau anschmiegt, ihn zu akzentuieren vermag? Ich biete dazu fünf Thesen, die sich — generalisierend — von ›dem‹ Gedicht aus auf ›die‹ Lyrikkritik zubewegen und die allesamt dazu dienen sollen, eine schnelle Antwort auf die soeben gestellte Frage zu erschweren.

1. Es gilt, das Gedicht beim Wort zu nehmen. Und das im ganz handfesten Sinne: Das Wort als den ›Griff‹ — den Trick, den Dreh — des Gedichts zu ergreifen, um es daran zu heben, zu drehen und zu wenden; Hand anzulegen an die Schwellkörper der Sprache, die gemäß Gerhard Falkner im Gedicht sitzen. Was da aber schwillt und wächst und wuchert unter dem Tasten der Leserin, die Sprache des Gedichts, das trennen Himmel von der Sprache des Alltags, der Prosa, des Lärms, des allgegenwärtigen Geredes. Dies mag man — spekulierend — aus der Prähistorie der Lyrik in Gesang und Gespräch, in Skalden-Sprache, herleiten, als einen quasi-genetischen ›Rest‹ ansehen, der sie immer noch prägt. So will womöglich im Wort des Gedichts Schrift immer noch (gesprochene) Sprache sein, oder umgekehrt: So bleibt die Sprache der Lyrik in der Schrift unbehaust. Sie muss, auch da, wo sie sich alltäglicher, bekannter Wörter bedient, insgesamt — im unterschiedlichen Grad zwar, aber immer — eine fremde sein, manchmal sogar eine schwer oder im Extrem gar nicht verständliche. Sprache, jedenfalls, die sich jeder gedankenlosen oder zumindest kurzgedachten Besitznahme entzieht, in der »Öffnungen« bleiben, »durch die noch nicht Beziehbares sich entzieht, oder nur Präsentes, das sich nicht auf anderes hin öffnet«. Dies nachzuvollziehen, muss man nicht auf dem Meri­dian wandeln, man kann auch dem (Gesprächs-) Spiel lauschen, das Christoph Meckel nächtens mit seinem Gast Angiolieri spielt:

»Es gehört zur Komplicenschaft, und zum Reiz des Spiels, daß der Einsatz — das Wort — nicht verraten wird. [… W] enn ich ihm ein Wort vorsetze, es unterjuble und präsentiere, spiele ich wunder was am langen Faden. Ich zeige den Gegenstand, wie verlockend er ist, wie betörend im Licht, und daß man ihn gut erkennt, und dann — er will schon zupacken will er — ziehe ich meinen Faden und wunder was weg.«

Das Wort des Dichters, der Trick des Spielers, die Fäden Meckels und Ragnar Helgis gleichen einander aufs Haar. Die Leserin, die sich verlocken und versuchen lässt, kann da »wunder was« in die Hand bekommen! Sie kann sich, selbst noch in der Geste des Greifens begriffen, unversehens im Gehege des gestörten Palindroms »[sie] will schon zupacken will [sie]« wiederfinden, während das Wort ihr entzogen wird. — Ein Spiel, kein Verschleudern des Sagens und Schreibens. Der Einsatz (ein Satz oder mehrere) ist dahin, das Spiel beginnt von Neuem… und von Neuem… und von Neuem.
Lyrikkritik muss sich vom Gedicht das Wort entziehen lassen ; muss riskieren, am Faden durch die Öffnungen der Dichtersprache gezogen zu werden ; muss darauf gefasst sein, von der Präsenz der Worte eingekreist zu werden, wenn sie wunder was wirklich (be)greifen will.

2. Der Raum des Gedichts lässt sich nicht trivial ermessen. Prosa entfaltet ihre Stadt-, Land-, Flusskarten kunstvoll vor den Augen der geneigten Leserin. Dramen bieten sich ihrem Publikum, auch da, wo sie maximal verfremden, wo sie postdramatisch, interaktiv, neo-dokumentarisch, re-enacting oder zum Film werden, in der vertrauten Dimensionalität des ihm — dem Publikum — bekannten Raumes dar. Aber der Raum der Lyrik? Ist er kartiert, vermessen? Müsste ein solches Vermessen nicht immer im Verdacht stehen, mit zu großer Vermessenheit Maßstabstreue (1:100.000?) zu behaupten und sich dabei doch nur vermessen zu haben? (Im »ver-« schwingt stets das Misslingen mit (verfehlen, vergeuden, verkochen).) Der Raum der Lyrik kann eine Echokammer mit der höchsten Anzahl an Rückkopplungen sein oder jener vollkommen schalldichte Raum, in den John Cage sich einst einschließen ließ, allerdings ohne darin verrückter zu werden, als er es zuvor schon war. Der Raum der Lyrik kann jede Stufe dazwischen sein. In diesem Sinne bleibt Lyrik, mag sie auch mitunter so leicht messbar (Metren), zählbar (Verse), einteilbar (Zäsuren) erscheinen, auch in ihren strengsten Formen inkommensurabel, auch in ihren narrativsten Formen von der Prozessualität der Prosa geschieden. Denn der Dreiweg, nach alter Sitte der Ort magischer Beschwörungen und Handlungen zu Nutzen und Nachteil, wird im Gedicht in alle Dimensionen hinein verzweigt. Gäbe es eine Karte der Lyrik, so zeigte sie vielerlei Wege hinein aber nicht unbedingt einen hinaus.
Lyrikkritik muss im Horizont einer Topologie der Auswege aus dem Gedicht operieren.
3. Das Gedicht ist aufgespannt zwischen Verstehen und Verstellen. Lyrica zählen sicherlich nicht zu den am häufigsten rezensierten Texten der veröffentlichten literarischen Meinung. Gleichwohl bieten deutsche Feuilletons löbliche Ausnahmen. Die altehrwürdige Frankfurter Anthologie, seit Kurzem unter Hubert Winkels’ Regie, zielt mit ihren samstäglichen Deutungen berühmter Gedichte durch berühmte Interpreten zwar seit je auf Kanonisierung fürs schwindende Bildungsbürgertum ab, doch muss das auch Seltenheiten und Schätze nicht ausschließen. Vielseitiger und vielsprachiger agiert im VOLLTEXT das Tandem aus Michael Braun und Paul-Henri Campbell, die sich im »Lyrik-Logbuch« in prägnanter Kürze um poetische Neuerscheinungen verdient machen. Für beide Formen, die jeweils Einzelgedichte in den Mittelpunkt stellen, ist Kennerschaft, also die Kombination von Belesenheit und Erkennen, erforderlich. Verstehen jedoch nicht unbedingt. Und hier stockt der Gedanke ein weiteres Mal: Ist denn, im Falle der Lyrik, unter den oben skizzierten Bedingungen der Irritation, der Erregung durch eine immer wieder unbekannte und somit potentiell unverständliche Sprache, Verstehen überhaupt möglich? Kann ich ein Gedicht so verstehen, wie ich die Kritik der Urteilskraft oder Vita activa verstehen sollte, um ihren Stellenwert kritisch beurteilen zu können? Steht dem Verstehen der Kritikerin nicht das (sich-) Verstellen der Lyrik so entgegen, dass beider Verben Vorsilben ihre prekäre Gewalt entfalten? (Im »ver-« schwingt immer Gewalt (verbiegen, verweisen, verklappen) oder Privation (verwaisen, versagen, vergehen) mit.) Gerät das Ver-stehen der Kritikerin zum statischen Ver-harren vor dem Text, während im Ver-stellen das Gedicht ihr die Sicht nimmt? Gezicht van het oog lautet der nicht restlos ins Deutsche übersetzbare Titel eines Lyrikbandes von Cees Nooteboom. Worauf aber harrt die Kritikerin, während das Gedicht ihr das gezicht verstellt, sich ihr gegenüber positioniert? Womöglich harrt sie, wenn sie Hermeneutin alter Schule ist, auf eine Horizontverschmelzung, die sich irgendwann mit gemächlicher Sicherheit schon einstellen wird, und zeichnet damit treu den hermeneutischen Zirkel nach — ohne Sicht aufs Gedicht, das es ihr ja verstellt, erkennt sie nur, was sie immer schon gekannt hat.
Wenn Lyrikkritik nicht vorschnell einen Zirkel schlagen will (auch dies, nebenbei, eine magische Praktik), muss sie versuchen, diese Spannung zwischen Verstehen und Verstellen zu beschreiben, als deren Variante immer auch die Spannung zwischen Gedicht und Kritikerin zu gelten hat.

4. Das Gedicht erscheint proteischer als je zuvor. Es geht nicht ohne Tradition. Es geht gegen, aber nicht ohne sie. Der Bruch mit der Tradition gerät stets zur Tradition des Bruches — wie es scheint, eine Signatur der Moderne (Octavio Paz). Doch es gibt auch eine Tradition von Dichterbildern. In sehr unterschiedlichen nationalen, ethnischen, ideologischen etc. Kontexten, unter- oder überschwellig, aber insgesamt doch hartnäckig hält sich bis heute ein Bild vom Dichter als — wahlweise oder in Kombination — Sänger, Priester, Politiker, Schizophrener, genialer (verkannter) Sonderling, Wahrheitszeuge, Gegenwartsdiagnostiker, Egomane. Solche Kasuistik schließt Kollektivierungen keineswegs aus: eine ›Bewegung‹, ein ›wir‹ als Gruppe der Gegenwartslyriker, ob nun marktgängig oder nicht. Die oben beileibe nicht vollständig aufgeführten Zuschreibungen können auf die Gruppe (den ›Kreis‹) insgesamt oder innerhalb dessen individuell auf Einzelne angewandt werden.
Dagegen ist nichts zu sagen. Wer mag heute noch ernsthaft anderen verbieten, sich ein Bild zu machen? Prekär scheint jedoch eine oft mehr oder minder explizit damit verknüpfte Auffassung von Lyrik als Gattung in Konkurrenz: gegen die allmächtigen, marktgängigen Prosaformen; gegen die ›Nullmedien‹ Film, Fernsehen und Internet; gegen die allgemeine Verdumpfung und Verblödung ›der Masse‹ etc. etc. Das in Büchern beigesetzte Gedicht (Meckel) als Hort des Eigentlichen wider ein Anderes (beliebig zu ergänzen: das Neue, Technik, Medien etc.).
Wohlgemerkt: Der tapferen, über ihren Kalkulationen brütenden Lyrik-Verlegerin sei jeder Stoßseufzer zugestanden. Der Kritikerin aber sei ins Stammbuch geschrieben, dass der Umkehrschluss aus ihren Bildern von Dichtern und Dichtung unzulässig ist: Es ist nicht von Vornherein ausgemacht, dass auf Poetry Slams nicht ab und zu etwas zur Aufführung kommt, was dem ersten Namensbestandteil auch gerecht wird. Es liegt auf der Hand, dass literarische Weblogs (wie Die Dschungel. Anderswelt oder Parallalie u.a.) Lyrik im Entstehungsprozess und teils im direkten Kontakt mit ihren Leserinnen auf eine Weise dokumentieren, die bis vor 20 Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Und welchen Grund gäbe es, Gedichte, nachdem sie in Audiokunst, in Filme oder Hypertexte verwandelt wurden, pauschal geringzuschätzen, statt den Möglichkeiten oder Risiken solcher Verwandlungen mit Kenntnis und Scharfsinn nachzuspüren?
Die mannigfaltigen Gestalten, in denen Gedichte heute begegnen können, zeigt es deutlich: Nicht mehr die narrativen Großgattungen vom Roman bis zur avancierten TV-Serie sind es, die ›alles in sich aufnehmen können‹, sondern die versatilste: Proteus Poesie. Lyrikkritik darf sich von solchen Metamorphosen nicht blenden lassen.

5. Die Richtung des Gedichts ist Form, nicht Volumen.
(… Spätestens hier wird es behelfsmäßig: ›Richtung‹ soll den teleologischen Beigeschmack des Wortes ›Ziel‹ ausbremsen; ›Form‹ meint, wie oben, Form und Inhalt …)
Das Gedicht gibt die Richtung, es zeigt — wie die Kompassnadel zeigt — auf seine eigene Form, auf das, woran es als Gedicht kenntlich wird; es ist nicht auf das Volumen aus sich und seinen ›Geschwistern‹ gerichtet, auf die Masse, die unter dem Titel »Gesammelte Gedichte«, ein- oder mehrbändig, Einlass in die Bibliotheken findet. Ein Erkennen dessen, worauf das Gedicht gerichtet ist (sich richtet?) stellt sich, im besten Falle, als plötzliche, vielleicht blitzartige Erfahrung von Sinn ein. Dabei ist es unerheblich, ob diese Erfahrung sich an einem Wort, einem Vers, einem Gedicht, einer Reihe oder einem ganzen, komponierten, Lyrikband ereignet. Um diese Erfahrung zu machen, wird es allerdings erforderlich sein, dass die Kritikerin ebenso wenig mit ihren Kräften haushaltet wie die Sprache des Gedichts.
Schon vor 23 Jahren stellte Wolfgang Hilbig fest: »Kunst und Literatur haben sich die Frage nach ihrem Sinn lange genug verbeten, darunter ist ihr Einfluß zu einer Randerscheinung verfallen.« Was für Hilbig recht unverhohlen Indiz eines Absteigens war, lässt sich jedoch mit einem Griff ins Positive wenden: Da die Haushaltung der Lyrik unterdessen in die Randgebiete (Strandgebiete?) des Literaturbetriebs gewandert ist, scheint die Ausgangslage für eine Konzentration auf ihre Form günstiger den je. Gut dreißig Jahre vor Hilbig presste Marie-Luise Kaschnitz ein primär ökonomisches Verhältnis zwischen Publikum und Dichter in ein merkwürdiges Bild. Der Poet muss seine »Kunden«, wie es im Gedicht heißt, vertrösten, da seine »geschriebenen« Vögel nicht mehr singen wollen — eine durchaus traditionelle Allegorie des Dichtens. Die Kunden aber reagieren, indem sie dem Dichter etwas ans Bein binden — wörtlich:

Meine Kunden diese
Sind ärgerlich, nehmen mich übel
Neuerdings haben sie mir
Ein Waffeleisen
an den Fuß gebunden.
Da hink ich und hüpfe.
Das Eisen klappert
Klappt auf und zu
Bäckt Luft.

Die Leserin kann Kaschnitz’ Gedicht als doppelte Absage, sowohl an eine überkommene Naturlyrik der singenden Vögel als auch an eine mechanische Lyrik-Produktion von ›heißer Luft‹ deuten. Hieße das aber nicht, der Versuchung dieser Lyrik zu erliegen und damit zu ihrer ›Kundin‹ zu werden? — So unbeholfen der sanglose Dichter hier auch formulieren mag : Was von einem Publikum, das sich als Kundschaft versteht, zu halten sei, legt schon die Aposiopese »Kunden diese…« nahe. Befremdlicher mutet das Waffeleisen an, das des Dichters ungelenken Versbau zum grotesken Tanz, einem ›Hink’n‹ und ›Hüpfen‹, zu verschlimmern scheint. Im doppelt betonten »Bäckt Luft« des letzten Verses meint man das Auf- und Zuklappen des »Eisens« zu vernehmen, zu dem das Haushaltsgerät bedeutsam verkürzt wird und das doch nur »Luft«, also Nichts (?) backen kann.
Fünfzig Jahre Lyrikgeschichte später braucht die Kritikerin, nun fernab des großen Geschäfts, nicht mehr Kundin zu spielen, die Dichter gleich in Eisen legen will. Sie kann es sich leisten, den Dichter nicht »übel« zu »nehmen«, sondern vielmehr das Gedicht beim Wort. Sie kann z.B. in Kaschnitz’ Versen eine Variation dessen erkennen, was Christoph Meckel als »Luftgeschäfte« der Poesie bezeichnet hat. Aus dem ungelenken Hüpfen, das im Wortsinne mit dem Prägen des »Waffeleisens« zusammen-hängt, kombiniert dieses Gedicht seine Form : Was wäre Lyrik anderes als Luft, Aura, die im Eisen (Blei) des Gerätes (der Druckerpresse) gepresst, gedruckt, verdichtet wird? Im »ver-« schwingt stets die Metamorphose (verdichten, verwandeln, verfilmen) mit.
(… Dass auf diese Weise ›gebackene‹ Luft auch vom ›Eisen‹ versehrt werden kann, zeigt nicht zuletzt dieses Gedicht in Kaschnitz’ Gesammelten Werken …)
An der von Hilbig noch beklagten Peripherie bleibt die Kritikerin vom primär auf Volumen gerichteten Lärm (der nur sein eigenes »volume« kennt) des intermedial beschleunigten Literaturbetriebs verschont, auf dessen Maßgaben sie die ›Luftbäckerei‹ der Dichterin ansonsten flugs beziehen würde. Sie kann sich zur Allegorie des Gelesenen anschicken.
Eine solchermaßen ›allegorische‹ Lyrikkritik verhält sich zum Gedicht zugleich analog und different : Sie schlägt (wie jenes) die Richtung auf die Form ein, die für sie aber Stil bedeutet; sie wendet sich (wie jenes) vom Volumen ab, das für sie als ›Lautstärke‹ gefasst werden muss.

Die hier aufgestellten Thesen sind grundsätzlicher und naturgemäß vorläufiger Natur. Allein schon, weil sie den folgenden vier Essays vorauslaufen. Das Umgekehrte gilt nicht: Man kann nicht behaupten, dass die Essays dieser Ausgabe meinen Überlegungen folgten, ihnen uneingeschränkt zustimmten oder sie gar exemplifizierten. Sie arrangieren sich vielmehr als vier sehr unterschiedliche, von der jeweiligen Verfasserin gewählte Auswege, die das Problem einer theoretischen, notwendigerweise unvollständigen Bestimmung des Schreibens über Lyrik dadurch umgehen, dass sie es — das Schreiben — vielfach in die Praxis umsetzen. Wo es gelingt, da gilt der Aphorismus »Die Theorie muß man kennen, aber die Sinne müssen sich über die Theorie lustig machen.«

Der Auf bau dieses Heftes folgt dem Gesetz der wachsenden Glieder.